19. Juni 2024
Massenentlassungsverfahren Vorlage EuGH
Arbeitsrecht

Fehler im Massenentlassungsverfahren und ihre Auswirkungen – Erneute Vorlage des BAG an den EuGH

Nun ist es abermals der 6. Senat des BAG, der dem EuGH (Beschluss v. 23. Mai 2024 – 6 AZR 152/22 (A)) Fragen zum Verfahren der Massenentlassungsanzeige vorgelegt hat. 

Bereits mit Beschluss vom 1. Februar 2024 (2 AS 22/23 [A]) hatte der 2. Senat des BAG dem EuGH Fragen zu den Rechtsfolgen von Fehlern im Rahmen des Massenentlassungsverfahrens zur Entscheidung vorgelegt. Aufgrund verfahrensrechtlicher Zweifel, die der 6. Senat an der Vorlageberechtigung des 2. Senats hegt, legte ersterer nun selbst die – inhaltlich weitestgehend deckungsgleichen – Fragen dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Der EuGH wird insofern darüber zu entscheiden haben, 

  • ob Fehler im Anzeigeverfahren auch dann erheblich sind, wenn die nationale Arbeitsagentur eine – objektiv fehlerhafte – Massenentlassungsanzeige nicht beanstandet und sich damit als ausreichend informiert betrachtet hat; 
  • ob fehlerhafte oder gänzlich fehlende Massenentlassungsanzeige nach Zugang der Kündigung korrigiert bzw. ergänzt oder nachgeholt werden kann;
  • ob weitere Sanktionen außer der Entlassungssperre erforderlich sind.

Die Pflicht zur Konsultation und Anzeige bei Massenentlassungen …

… ist in den §§ 17 ff. KSchG geregelt und dient der Umsetzung der europäischen Massenentlassungsrichtlinie (MERL). Möchte ein Arbeitgeber* in einem Betrieb mit mehr als 20 Arbeitnehmern innerhalb von 30 Tagen eine über den in § 17 Abs. 1 S. 1 KSchG genannten Schwellenwerten gelegene Anzahl an Arbeitsverhältnissen beenden, hat er ein sog. Massenentlassungsverfahren durchzuführen. 

Dieses verpflichtet den Arbeitgeber gegenüber dem Betriebsrat zu besonderen Informations- und Konsultationspflichten („Konsultationsverfahren“ nach § 17 Abs. 2 KSchG) sowie Mitteilungs- und Anzeigepflichten gegenüber der (zuständigen) Agentur für Arbeit („Anzeigeverfahren“ nach § 17 Abs. 1 und 3 KSchG). Im Rahmen des Konsultationsverfahrens hat der Arbeitgeber den Betriebsrat frühzeitig und schriftlich u.a. über 

  • die Gründe für die geplanten Entlassungen, 
  • die Zahl und Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, 
  • den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, 
  • die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer sowie
  • die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien

zu informieren. Weiter hat er mit diesem zu beraten, um Entlassungen zu vermeiden, einzuschränken und ihre Folgen zu mildern. Anschließend ist die eigentliche Massenentlassungsanzeige mit den nach § 17 Abs. 3 S. 4, 5 KSchG umfassend vorgegebenen Angaben bei der Agentur für Arbeit zu erstatten. 

Des Weiteren hat der Arbeitgeber die sog. „Entlassungssperre“ des § 18 KSchG zu beachten. Nach ihr werden anzeigepflichtige Entlassungen frühestens nach Ablauf eines Monats nach Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit wirksam; mit deren Zustimmung ausnahmsweise auch früher. Die Regelung schafft insofern eine Art „Mindestkündigungsfrist“. Ein Arbeitnehmer, der (etwa wegen der Probezeit) mit einer Frist von zwei Wochen kündbar ist, kann im Rahmen eines Massenentlassungsverfahrens daher grundsätzlich nur mit einer Frist von mind. einem Monat nach Eingang der Anzeige gekündigt werden.

Unwirksamkeit der Kündigung als Folge von Verstößen im Verfahren

Seit 2012 hat das BAG ein Rechtsfolgen- und Sanktionssystem für Fehler im Anzeigeverfahren entwickelt. Danach führen Verstöße gegen die gesetzlichen Vorgaben in der Regel zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen nach § 134 BGB. Als Folge mussten Kündigungen dann erneut – dann nach Erstattung einer nunmehr ordnungsgemäßen Anzeige – vorgenommen werden – mit der Konsequenz, dass die Kündigungsfristen erneut zu beachten waren.

2022 leitete der 6. Senat des BAG eine Änderung dieser Rechtsprechung ein

Hintergrund war die Überprüfung, ob die Unwirksamkeitsfolge bei Fehlern im Anzeigeverfahren stets zur Kündigung führen sollten. Entsprechend reif der 6. Senat mit Beschluss vom 27. Januar 2022 (6 AZR 155/21 [A]) den EuGH an, mit der Frage, ob der Zuleitung der Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat an die Bundesagentur für Arbeit im Individualschutz gegenüber Arbeitnehmern zukommt. Andernfalls könne nicht ohne weiteres die Unwirksamkeit nach § 134 BGB als Folge für einen Verstoß angenommen werden.

Der EuGH verneinte den Individualschutz (Urteil v. 13. Juli 2023 – Rs. C-134/22). Unter Zugrundlegung dieser Entscheidung beabsichtigte der 6. Senat von der Rechtsprechung des 2. Senats, die stets auf die Unwirksamkeitsfolge der Kündigungen nach § 134 BGB abstellte, abzuweichen. Verfahrensrechtlich ist in einem solchen Fall eine sogenannte Divergenzanfrage zu stellen. D.h. der 6. Senat fragte bei 2. Senat an, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten wolle (Beschluss v. 14. Dezember 2023 – 6 AZR 157/22 [B]). 

Der 2. Senat setzte daraufhin überraschenderweise das Verfahren aus und wandte sich seinerseits an den EuGH (Beschluss v. 1. Februar 2024 – 2 AS 22/23 [A]). Kern seiner Anfrage ist nun, ob trotz Fehlern im Anzeigeverfahren die Sperrfrist des § 18 Abs. 1 KSchG in Gang gesetzt wird. Denn wenn nur eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige die Monatsfrist für die Entlassungssperre auslösen kann, würde die Frist bei einer unterbliebenen oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige nicht in Gang gesetzt. Als Folge würden die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch die Entlassungssperre gehemmt (d.h. die Kündigungsfrist könnte nicht ablaufen). Bejahte man dies, stellt sich die Anschlussfrage, ob Fehler durch erneute (dann korrekte Anzeige) geheilt werden können. 

Offen ist, ob die fehlende oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige nach Zugang der Kündigung noch korrigiert bzw. nachgeholt werden kann

Diese Frage hatte bereits der 2. Senat in seinem Vorlagebeschluss – bzw. nun auch der 6. Senat – dem EuGH zur Beantwortung vorgelegt. Der 6. Senat tendiert dazu, diese Frage zu verneinen.

Nach seiner Auffassung sollen formelle Fehler im Anzeigeverfahren nicht mehr die Wirksamkeit der anzeigepflichtigen Kündigungen berühren – auch nicht durch eine faktisch wirkende Entlassungssperre nach § 18 KSchG. Denn die gesetzliche Norm verfolge ausschließlich arbeitsmarktpolitische Zwecke. 

Als mögliches Ergebnis deutet der 6. Senat an, dass die Kündigungsfrist bei einer unterbliebenen oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige (in Anlehnung an § 18 Abs. 1 und 2 KSchG) für einen bis maximal zwei Monate gehemmt sein könnte. Ein solches Sanktionsregime würde sich an der Höchstdauer der möglichen Verlängerung der Entlassungssperre durch die Agentur für Arbeit bei ordnungsgemäßer Anzeige orientieren. Die Kündigung bliebe also wirksam, jedoch würde das Ende der Kündigungsfrist bei Fehlern im Anzeigeverfahren um einen bzw. zwei Monate nach hinten verschoben.

Nach aktuellem Stand sind die Rechtsfolgen einer unterlassenen oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige nach wie vor offen

Vor dem Hintergrund der vorgenannten offenen Punkte hat der 6. Senat dem EuGH zwei weitere Fragen vorgelegt. Zum einen soll der EuGH entscheiden, ob Fehler im Anzeigeverfahren auch dann erheblich sind, wenn die nationale Arbeitsagentur eine – objektiv fehlerhafte – Massenentlassungsanzeige nicht beanstandet und sich damit als ausreichend informiert betrachtet hat. Denn damit sei dem Zweck der MERL, eine rechtzeitige Arbeitsvermittlung zu ermöglichen, Genüge getan ist. Zum anderen fragt der 6. Senat, ob neben der Entlassungssperre weitere Sanktionen erforderlich sind. Solche Sanktionen müsse der Gesetzgeber im Arbeitsförderungsrecht regeln. 

Die Frage nach möglichen weiteren Sanktionen abseits einer jedenfalls zeitweiligen Ablaufhemmung der Kündigungsfrist ist derzeit offen. Arbeitgeber sind weiterhin gut beraten, ein besonderes Augenmerk auf die korrekte Durchführung des Anzeigeverfahrens zu richten, um den Anforderungen der – zumindest noch – geltenden Rechtsprechung zu genügen.

Mit Blick auf die Entscheidung des EuGH vom 13. Juli 2023 (Rs. C-134/22) sowie den Vorlagebeschlüssen des 2. und 6. Senats bleibt zu wünschen, dass das strenge Sanktionsregime für eine fehlende oder fehlerhafte Anzeige an die Agentur für Arbeit angepasst und die Unwirksamkeitsfolge der Vergangenheit angehören wird. Bei fehlerhaften oder gänzlich fehlenden Massenentlassungsanzeigen an die Agentur für Arbeit könnte nach Auffassung des 6. Senats der Ablauf der Kündigungsfrist für einen bzw. zwei Monate gehemmt sein. 

Mit Klarheit ist erst in einigen Monaten zu rechnen

Denn bevor es zu einem solchen Kurswechsel in der Rechtsprechung des BAG kommt, muss der EuGH in den nun eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren entscheiden. Danach gilt es die Antwort des 2. Senats auf die Divergenzanfrage des 6. Senats abzuwarten. Sollte der 2. Senat den Weg für eine Rechtsprechungsänderung nicht frei machen, müsste der Große Senat des BAG angerufen werden. Erst danach kann der 6. Senat die von ihm ausgesetzten Verfahren in der Sache entscheiden – und ggf. die höchstrichterliche Rechtsprechung zu den Auswirkungen von formellen Fehlern im Anzeigeverfahren des Massenentlassungsverfahrens ändern. Bis Rechtsklarheit eintreten wird, wird es daher vermutlich noch einige Zeit dauern.

Explizit nicht von der aktuellen Diskussion betroffen, sind Fehler im Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG – Hier bleibt es bei der Unwirksamkeitsfolge

Der 6. Senat hat in seiner Divergenzanfrage an den 2. Senat ausdrücklich klargestellt, dass Fehler im Konsultationsverfahren weiterhin zur Unwirksamkeit etwaiger Kündigungen gemäß § 134 BGB führen (6 AZR 157/22 (B)). Denn im Unterschied zum Anzeigeverfahren sei – wie bei § 102 BetrVG – ein Einfluss des Betriebsrats auf die Willensbildung des Arbeitgebers gewollt. Entsprechend dürfe ein Verstoß gegen die Konsultationspflichten (§ 17 Abs. 2 KSchG) keine geringere Sanktion auslösen, als ein Verstoß gegen das Anhörungserfordernis bei einer Kündigung (§ 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG). In beiden Fällen müssten Verstöße zur Unwirksamkeit der Kündigung führen. (Auch wenn bei dieser Argumentation übersehen wird, dass der Gesetzgeber die Unwirksamkeitsfolge bei Verstoß gegen das Anhörungserfordernis im Gesetzt geregelt hat, § 102 Abs. 1 S. 3 BetrVG). 

Die korrekte Durchführung des Massenentlassungsverfahrens (Konsultation und Anzeigeverfahren) bietet viele Herausforderungen. Arbeitgeber sollten hier weiterhin größte Sorgfalt walten lassen, um nicht Gefahr zu laufen, alle Kündigungen wiederholen zu müssen – mit den dann aus der Verzögerung der Maßnahme folgenden hohen Kosten. 

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Tags: Anzeigeverfahren Arbeitsrecht Konsultationsverfahren Massenentlassungsverfahren Vorlage EuGH