27. August 2014
Wenn’s mal wieder länger dauert – § 198 GVG bei Verfahrensverzögerungen im Zivilprozess?
Dispute Resolution

Wenn’s mal wieder länger dauert – § 198 GVG bei Verfahrensverzögerungen im Zivilprozess?

Das Problem langsamer oder gar untätiger Gerichte in Zivilprozessen ist nicht neu und für die beteiligten Parteien häufig mit großen finanziellen Risiken behaftet. Aber immerhin gibt es doch seit geraumer Zeit mit § 198 Abs. 1 und 3 GVG gleich zwei Rechtsbehelfe, die dieses leidige Thema den Rechtsgeschichtlern überantworten… Oder?

Anspruch auf Beschleunigung vs. richterliche Unabhängigkeit

Es gibt unterschiedliche Ursachen, die ein Verfahren verzögern können: Etwa zeitraubende Richterwechsel, langwierige Sachverständigengutachten, schlichtes Nichtbetreiben des Verfahrens oder fehlendes Einwirken auf eine verzögernde Partei. Die beteiligten Parteien, die sich für die Dauer des Verfahrens bedeutenden wirtschaftlichen Einbußen gegenüber sehen oder hohe Verfahrenskosten zu tragen haben, sind im Interesse ihrer Geschäftsaktivitäten jedoch auf eine rasche Entscheidung angewiesen.

An sich könnte man untätige oder nicht auf verzögernde Parteien einwirkende Gerichte mit einem bloßen Verweis auf das geltende Recht zum schnelleren Betreiben eines Verfahrens bewegen. Denn das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf effektiven Rechtsschutz garantiert insbesondere einen „zeitgerechten″ Rechtsschutz. Zusätzlich unterwirft die Zivilprozessordnung die Gerichte einer allgemeinen Pflicht zur zügigen Verfahrensförderung.

Die Gerichte können sich allerdings im Gegenzug auf ihre – ebenfalls in der Verfassung abgesicherte – richterliche Unabhängigkeit und ihr damit verbundenes Recht auf eine Verfahrensführung nach eigenem Ermessen berufen. Dem Anspruch der Parteien auf eine zügige Verfahrensführung sind also von vornherein die Flügel gestutzt; das Schutzniveau des Anspruchs befindet sich irgendwo im Dunst verfassungsrechtlicher Abwägungen. Der Anspruch ist weitgehend konturlos, da einzelfallabhängig, und wegen des hohen Ranges der richterlichen Unabhängigkeit fast nutzlos.

Überlange Gerichtsverfahren als (historischer?) Makel des Rechtsstaats Deutschland

Überlange Gerichtsverfahren blicken in Deutschland auf eine lange Tradition zurück: Von 1959 bis 2009 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mehr als 40 Urteile gegen Deutschland gefällt, in denen eine überlange Verfahrensdauer festgestellt wurde. Noch im Jahre 2010 waren 55 Beschwerden gegen Deutschland aus demselben Grund anhängig.

Der Grundtenor der europäischen Kritik an Deutschland war deutlich: Nicht nur verstoßen überlange Verfahren gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK. Weil es zudem nach deutschem Recht keinen geschriebenen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahren gab, sei auch das in Art. 13 EMRK verbürgte Recht auf wirksame Beschwerde verletzt.

Schon im Jahre 2006 hat der EGMR deshalb in der Sache Sürmeli ./. Deutschland die Verpflichtung Deutschlands zur Schaffung eines derartigen Rechtsbehelfs formuliert. Dem wurde – etwas verzögert – durch das „Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren″(ÜVerfBesG vom 24. November 2011, BGBl. I 2302) abgeholfen, könnte man meinen.

Wunderwaffe § 198 GVG?

Für Prozessparteien, die unter den wirtschaftlichen Folgen einer Verfahrensverzögerung leiden, ist der Blick in den Gesetzestext vielversprechend: § 198 Abs. 1 GVG stellt bei unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens eine Entschädigung in Aussicht. Nach § 198 Abs. 3 GVG besteht zudem die „Möglichkeit″, bei dem mit der Sache befassten Gericht die sogenannte Verzögerungsrüge zu erheben.

Doch müssen für eine unangemessene Verfahrensdauer hohe Voraussetzungen erfüllt sein und die Verfahrensrüge dürfte insofern weniger eine Möglichkeit denn eine zusätzliche Hürde darstellen.

Dies liegt zum einen daran, dass § 198 Abs. 1 GVG einem strengen, da verfassungsrechtlichen Verständnis überlanger Verfahrensdauer folgt: Da der hohe Rang der richterlichen Unabhängigkeit aus Art. 97 Abs. 1 GG in die Gesamtbetrachtung eingestellt wird, führt nicht bereits jede negative Abweichung von der optimalen Verfahrensdauer zu erfolgreicher Rüge und Entschädigungsklage.

Stattdessen greift § 198 GVG nur dann, wenn bei einer Gesamtabwägung der in § 198 Abs. 1 S. 2 GVG genannten Aspekte, insbesondere unter Berücksichtigung der richterlichen Unabhängigkeit, eine gewisse Schwere der Verzögerung erreicht ist. Dies dürften in der Regel Ausnahmefälle sein.

Doch selbst bei Vorliegen der Entschädigungsvoraussetzungen begnügt sich die Regelung mit einer kleinen Lösung: Anders als in einem vorherigen Gesetzesentwurf angedacht, finden die §§ 249 ff BGB keine Anwendung. Die Entschädigung dürfte damit in der Regel hinter dem zurück bleiben, was materiell an Einbußen zu verbuchen war.

Zudem muss – will man in den Genuss einer Entschädigung kommen – zuvor die Verzögerungsrüge erhoben worden sein, § 198 Abs. 3 GVG. Diese hat das mit der Sache befasste Gericht jedoch noch nicht einmal zu „verbescheiden″; das heißt, kein Gericht muss eine Entscheidung darüber treffen, ob eine unangemessene Verzögerung vorliegt. Bei § 193 Abs. 3 S. 1 GVG dürfte ein bei der Überprüfung eigener Entscheidungen bekanntes Phänomen eintreten: (Gerichtliche) Objektivität endet nicht selten dort, wo eigene Befindlichkeiten betroffen sind.

Die Rüge bleibt damit in ihrer präventiven Wirkung und Warnfunktion deutlich hinter dem zurück, was die – leider nur teilweise anerkannte – Untätigkeitsbeschwerde nach § 567 ZPO analog zu leisten im Stande war. Bei letzterer konnte das Beschwerdegericht das untätige Gericht förmlich zur Verfahrensbeschleunigung auffordern.

Damit ist nicht nur die eigenständige Wirkung der Verzögerungsrüge überschaubar. Zur Vermeidung eines Haftungsrisikos dürften Anwälte zudem geneigt sein, die Rüge lieber einmal zu oft als zu wenig zu erheben. Dies birgt die Gefahr, dass die Verzögerungsrüge zum bloßen formellen Zwischenstopp auf dem Weg zur Entschädigungsklage wird und damit die Warnfunktion gegenüber dem Gericht weiter in den Hintergrund rückt.

Weniger ist mehr

Wenn auch die europäische Kritik mittlerweile abgeflacht ist: § 198 GVG ist alles andere als der prozessuale Joker schlechthin. Aber was tun, wenn § 198 GVG nicht weiterhilft und auch sonstige Rechtsbehelfe (etwa Amtshaftungsanspruch, Verfassungsbeschwerde oder Dienstaufsichtsbeschwerde) unpassend sind?

Bei aller Kritik ist anzuerkennen, dass die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG einen präventiven Gedanken enthält. Dieses Element könnte dadurch eine starke Wirksamkeit entfalten, dass die Rüge nicht unmittelbar erhoben, sondern nur angedroht wird. Denn jede Verzögerungsrüge dürfte ihren Weg in die Personalakte der jeweiligen Richter und Richterinnen finden. Ist sie dort erstmal angelangt, ist das Druckmittel aus der Hand gegeben.

Die Androhung einer Verzögerungsrüge hingegen könnte ein Gericht dazu bewegen, verfahrensbeschleunigende Maßnahmen zu ergreifen, um einem Akteneintrag entgegenzuwirken. Gleiches gilt für die Dienstaufsichtsbeschwerde: Diese ist zwar in der Regel form-, frist- und fruchtlos. Ihre Androhung dürfte dagegen ungleich wirkungsvoller sein.

Eines ist jedoch klar: Die (angedrohte) Verzögerungsrüge ist ein Angriff auf das Gericht, mit dem dessen Arbeitsweise bemängelt wird. Dass dies ein strategisches Risiko mit sich bringt, liegt auf der Hand.

Ist man also nicht bereits in der Situation, in der kein Wohlwollen des Gerichts erkennbar und deshalb nichts mehr zu verlieren ist, dürfte viel für eine zunächst zurückhaltende Herangehensweise sprechen. Strategisch sinnvoller erscheinen hier konkrete Vorschläge zu bestimmten Prozessführungsmaßnahmen, spezielle Maßnahmen zur Beschleunigung des stets zeitraubenden Sachverständigenbeweises wie etwa § 273 Abs. 2 Nr. 4 ZPO, vorgebliches Verständnis für die Arbeitsüberlastung der Gerichte sowie ein konstruktives, gemeinsames Ermitteln des Prozessstoffes.

 

Mit dem Themenfeld Konfliktbeilegung befassen wir uns intensiv im Rahmen unseres Dispute Resolution Kongresses 2014. Weitere Infos finden Sie auf unserer Veranstaltungsseite.

Tags: Entschädigung Prozessrecht überlange Gerichtsverfahren Verfahrensverzögerung Verzögerungsrüge zeitgerechter Rechtsschutz Zivilprozess Zivilprozessordnung zügige Verfahrensführung